LESEPROBEN

Barbara Ludwig


Mallorca-Krimis sind inzwischen meine Leidenschaft. Ich liebe die Insel und jedes Jahr bin ich ein paar Wochen im Frühjahr dort anzutreffen.


Nach: Lieben Sie Chopin? kommt Lieben Sie Tango?


Die Münchner Kriminalkommissarin Anna Solero wird von ihrem mallorquinischen Kollegen nicht ohne Hintergedanken zu einem Tango-Event der Sonderklasse nach Peguera eingeladen. Die berühmte Tango-Queen Ines wird bedroht. Als sie sich in Sicherheit bringt, ahnt niemand, dass sie sich ihrem Mörder freiwillig ausliefert.


 Hier ein Leseausschnitt:

 

 Er

Der Himmel tanzte Tango. Sehnsüchtig spiegelte er sich, verführte mit seinem tiefen Blau das Meer und bat die Sonne zum Tanz.

Tango ist mein Leben.

Und Ines? Sie ist der Tango, ist eine Göttin, meine Göttin.

 In Wellen fallen ihre dunklen Haare auf die Schultern. Oder sie trägt sie aufgesteckt zu einem kleinen Knoten und ich genieße den Blick auf ihren anmutigen Nacken. Ihre weiblichen Formen, der Wunsch, sie zu berühren, verfolgt mich bis in die Träume. Ihre bestrickende Eleganz, die Biegsamkeit ihres Körpers, ihre Sinnlichkeit beim Tanzen, bezaubert mich. Jede Geste von ihr hat sich mir eingeprägt: die Haltung ihrer Finger, das Zurückstreichen einer lästigen Strähne, der prüfende Ausdruck ihrer Augen, ihr Lachen mit den kleinen Lachfältchen um ihren Mund. Die Liste ist endlos.

 Beim ersten Treffen zögerte ich, mich ihr zu nähern. Verharrte wartend im Dunkel, beobachtete sie. Am zweiten Tag wagte ich, sie aufzufordern.

 „Kommen Sie, kommen Sie“, sagte sie, zeigte mir die korrekte Haltung und schon schwebten wir zu dieser melancholischen Melodie über das Parkett. Die Angst vergessen, meine Hand auf ihrem Rücken könne sich schwitzig anfühlen, meine Beine sich verheddern, meine Schritte falsch ausfallen.

 Ich habe sie wieder und wieder gebucht, habe mich eingeschmeichelt. Ja, das habe ich. Sie kennt mich inzwischen beim Namen. Bruchstücke meiner Existenz habe ich ihr zu Füssen gelegt, vor diese bewundernswerten Füße in den hohen Schuhen, in denen die Beine einer Frau begehrenswert erscheinen. Ihre Fesseln, ihre muskulösen Oberschenkel, die ich nicht müde werde, beim Tanz zu beobachten, ihren runden Hintern, der sich im engen Kleid abzeichnet. All das erregt mich, all das ist mein Lebensinhalt.

 Inzwischen beherrsche ich den Tango in vielen Facetten und hoffte, sie würde mich bitten, für den Tangowettbewerb ihr Partner zu sein. Sie rief mich an, doch sie bat mich nicht um diesen, sondern um einen anderen Gefallen. Sie bat mich um Hilfe. Mich!

 Und jetzt stecke ich in einem Dilemma:

Ich erhielt den Auftrag, Ines zu töten. Und sehe keine Chance, das Ansinnen abzulehnen.

Rabea Müller


Irgendwo in Dir


„Der triste Himmel macht mich krank ...“

singt PUR und ich öffne frustiert meinen Schrank.

Ich betrachte die Dinge meines Lebens,

sie sind voll des Erinnerns und Erlebens …


Doch heute kann man mich mit allem jagen,

so mancher Kollege tat es schon ohne zu fragen.

Ich habe das Gefühl, tiefer und tiefer zu sinken

und an mir und den grauen Wolken zu ertrinken.


Da erscheint ein kleines rotes Männlein mit großer Zauberkraft

es bringt mich zum Lachen, ich weiss gar nicht, wie es das schafft.

Mosaik ist sein Name, so mancher kennt ihn sogar schon seit Jahren -

lässt es sich doch einfach wunderbar mit ihm durch´s Leben fahren …


Denn Mosaik, so klein er auch ist, lässt sich nicht beirren

schon gar nicht kann Trübsal ihm das Gemüt verwirren.

Ein Schlenker des Zauberstabes versprüht Lebenslust in allen Farben.

Klettere aus dem Abgrund! Es wird Zeit, sich am Leben zu laben.


Wie ..., was …? Du möchtest nun Mosaik kennenlernen?

Ich kann ihn fragen – greif aber nicht zu sehr nach den Sternen.

Er erscheint leider nicht jedem. Mit dem Dichten kannst Du ihn jedoch locken.

Versuch es. Dichten macht Spaß und ist überhaupt nicht öde und trocken


Irgendwo ist immer Sommer, glaub mir.

Und jeder Regentag endet mit einem Regenbogen in Dir.

Höre auf Dein Herz! In ihm wohnt ein kleines Männlein -

mit Witz und Zauberkraft lässt es Dich nie allein ...


Eric Adler


Aus dem ersten Roman "Weiße Lichter"


Prolog


Der Arbeitsvermittler machte die Tür auf und winkte dem jungen Mann zu, einzutreten. Etwas zögerlich kam dieser hinein und setzte sich. Der Vermittler betrachtete die breiten Schultern und die schlanke Taille des Mannes und versuchte, seinen Neid zu unterdrücken. Er war froh darüber, dass der Schreibtisch seinen Bauch verdeckte. Der Arbeitssuchende holte eine blaue Mappe aus seiner Tasche. Der Vermittler machte sie auf und begann zu lesen.

„Studium der Marinetechnik … Stabsunteroffizier zur See … Was haben Sie denn genau gemacht?“

„Ich war auf einem U-Boot an der Nordsee stationiert.“

„Ach ja, hier steht es … Und danach haben Sie fünf Jahre lang zu Hause die Blumen gegossen.“

„Ich habe mich um meine Tochter gekümmert.“

Was zum Teufel machte ein Soldat, dazu sehr groß und kräftig, als Hausmann? Irgendetwas an der Erscheinung stimmte aber nicht: Die Energie, die Wachheit des Sportlers fehlte. Der Mann wirkte unkonzentriert und mutlos, wie einer, der lange versucht hat, sich an etwas Wichtiges zu erinnern und es schließlich aufgegeben hat, aber der sich eigentlich immer noch erinnern will.

„Sie sind geschieden?“

„Noch nicht offiziell.“

„Ihre Frau hat gearbeitet?“

Der Mann nickte.

„Sie mussten also nicht arbeiten … Und was wollen Sie jetzt tun? Gehen Sie zur Marine zurück?“

„Jetzt bin ich so lange aus dem Beruf raus …“ Er verstummte.

Noch so ein Träumer, der nicht wusste, was er wollte – und das mit Mitte dreißig. Wie ein junger, intelligenter aber unreifer Geisteswissenschaftler, gefangen in einer Scheinwelt von unrealisierbaren Ideen – nur, dass Geisteswissenschaftler nicht wie Schwarzenegger aussahen. Es hieß ja doch Geistes-Wissenschaftler, nicht Körper-Wissenschaftler.

Der Vermittler kannte die Geisteswissenschaftler nur allzu gut und er hatte sie herzlich satt. Wie sie bei ihm hereinschlurften, in zerrissenen Pullis und mit totem Blick: Alles sozial unbeholfene Kopfmenschen. Vielleicht sollte er den Job aufgeben, aufs Land ziehen, Imker oder Gemüsezüchter werden … Dieser Mann aber war ein seltsamer Hybrid – ein kräftiger, aber verträumter Soldat. Eine eigenwillige, sogar abartige Erscheinung; etwas, das eigentlich gar nicht existieren durfte. Wie ein weinender Präsident, oder ein psychisch kranker Astronaut.

Von dem Körperbau abgesehen, erinnerte der Mann an einen weißblonden norwegischen Philosophen, den der Vermittler zwei Wochen vorher vor sich gehabt hatte. Der Norweger, im dicken blau-roten Pulli mit Löchern an den Ellenbogen, hatte ihm mit spröder Stimme erzählt, dass er in Norwegen „theoretische Philosophie“ studiert hatte, wegen seiner deutschen Freundin aber nach München gekommen war, sich jetzt hier eine Existenz aufbauen wollte und daher Arbeit suchte. Auf die Frage des Vermittlers, ob denn nicht alle Philosophien theoretisch seien, hatte der junge Mann geantwortet, in Skandinavien sei aufgrund des Einflusses von Immanuel Kant das Fach in theoretische und praktische Philosophie aufgeteilt worden, und er sei nun einmal ein theoretischer Philosoph, was in seinem Fall so viel hieß wie ein Heidegger-Spezialist. Der Vermittler hatte sich damals nicht weiter über das Thema erkundigt, weil er die Wissenschaftler kannte und keinen spontanen Vortrag über Heidegger hören wollte, der ja auch noch ein Nazi gewesen war. Hatte Heidegger, obwohl verheiratet, es nicht auch mit seiner jüdischen Studentin getrieben?

Einen theoretischen Philosophen hatte der Vermittler also schon kennengelernt. Unter „praktischer Philosophie“ konnte er sich überhaupt nichts vorstellen. Was er sich aber sehr wohl vorstellen konnte, das war dieser seltsame Mann, in grauem Pulli, am Bündchen etwas abgenutzt, in der Rolle eines praktischen Philosophen – halb Intellektuellen, halb Muskelmann. Der Vermittler lächelte, amüsiert über seinen eigenen Ideenreichtum. Dann blickte er dem Fremden wieder in die Augen.

Fritzi G. Roeder


Ihr Motto: „Realität ist eine Illusion, aber eine sehr hartnäckige“

(Das Zitat wird Albert Einstein zugeschrieben)


aus „Ein (v)erzaubertes Leben – Heiterer und skurriler Berufsalltag einer Zauberkünstlerin“

 

„Diese herzerfrischende Biografie einer Zauberkünstlerin, die ihr reiches bewegtes Leben aus weiblicher Perspektive mit uns teilt, ist vollgepackt mit zahlreichen historisch interessanten, spannend alltäglichen sowie zauberisch lehrreichen Geschichten, die sie eloquent und atmosphärisch dicht zu formulieren weiß.“ (Buchbesprechung der Fachzeitschrift Magische Welt 2/2022)


 

Im Schurkenviertel


Ein Auftrag zu Maxls Kindergeburtstag, zu dem selbstverständlich auch die Eltern seiner Freundinnen und Freunde eingeladen sind, führt mich in einen Vorort Münchens. Der neu herausgegebene Stadtplan ist ein dickes Ring-Buch mit mehr zusätzlichen Städten als der alte, dafür ist die Schrift viel kleiner, geradezu winzig geraten. Vorab habe ich mich schon informiert über die Straße, aber vor Ort ist die Straße ohne Lupe nicht zu finden - GPS und Handy gab es damals noch nicht. So irre ich in den verwinkelten Straßen umher, die Unauffindbarkeit wird noch durch einige Einbahnstraßen gesteigert. Das Dorf besteht aus einfachen Holzhäusern in kleinen Vorgärten mit Blumen- oder Gemüsebeeten und ein paar Sträuchern.

Es ist Mittag, eine flirrende Hitze liegt über menschenleeren, staubigen Straßen; eine Szene, die mich an den Kultfilm 'High Noon' mit Gary Cooper erinnert. So dramatisch verläuft meine Suche nicht. In einem Vorgarten entdecke ich schließlich in gebückter Haltung eine korpulente Gestalt in einer leuchtend blauen, bodenlangen Latzhose, wahrscheinlich bei der Gartenarbeit. "Hallo, Sie!", rufe ich. Die Gestalt rührt sich nicht. Ich wiederhole meinen Ruf, diesmal etwas lauter. Sie verharrt weiter regungslos. Wahrscheinlich ist sie alt und hört schlecht. Ich trete näher und sehe zu meinem Erstaunen, dass es noch zwei leuchtend blaue Beine gibt, die zu der Plastik eines Bären gehören, der den Hals in den massigen Schultern versteckt und den Kopf mit den kleinen runden Ohren aufmüpfig hocherhoben hält. Ich habe das Gefühl, er lacht mich aus.

Also weitersuchen bis ich auf einen Mann mittleren Alters treffe, dem Aussehen nach ein Südländer, den ich nach dem Weg frage. "Ich habe Sie schon herumkurven gesehen.", sagt er lachend. "Was wollen Sie denn hier in diesem Viertel?"

Ich erzähle ihm von der Zaubervorstellung, die ich gleich geben werde, für den Fall, dass ich die Adresse finden werde.

"Ah, Zauberin sind Sie! Ich war auch mal in einem Zauberclub bei Siemens", erzählt er mit einem leichten ausländischen Akzent. Von diesem Club habe ich schon gehört. Für mich ist es ein gutes Omen, dass der einzige Mensch, den ich hier treffe, ein Zauberer ist.

"Woher kommen Sie?", frage ich.

"Von hier." Ich will wissen, woher er ursprünglich kommt.

"Aus Persien." antwortet er. Das sagen alle, die aus dem Iran kommen. Er fragt:

"Was machen Sie hier in diesem Schurkenviertel?" "Wieso Schurkenviertel?" Unwillkürlich denke ich an 'High Noon'.

"Alle diese Straßennamen sind nach Schurken benannt, nach Deutschen in Ost-Afrika, das damals deutsche Kolonie war." Das ist mir jetzt richtig peinlich und ich sage:

"Die Straße, die ich suche, ist eine ganz kleine Straße, vielleicht war das auch ein ganz kleiner Schurke." Der Mann lacht und sagt:

"Hier ist ein sehr armes Viertel. Schauen Sie sich die alten Holzhäuser an." Dann erklärt er mir den Weg. Es ist eine schmale, kurze Straße mit einem alten Holzhaus am Ende. Ich bin am Ziel.

Vor dem Haus ein Berg von Kindersandalen. Ich überschlage die Anzahl der Kinder. Es sind viel mehr als mir gesagt wurde. Von der Gastgeberin werde ich herzlich empfangen, übertönt von Kindergeschrei und Hundegebell. Eine fröhliche Gesellschaft schaut mir neugierig zu, wie ich meinen Zauberwagen vorsichtig durch die Gäste, vorbei an krabbelnden Kleinkindern und Hunden zum mir angewiesenen Platz schiebe. An einer Wandseite ist ein reichhaltiges Tortenbuffet aufgebaut, an einer anderen Wand sitzen Gäste auf Kissen dicht beisammen. Den Mittelpunkt bildet ein Biedermeiersofa mit verblasstem rosa Plüschbezug. Zwei braune Jagdhunde Hunde schieben sich durch die Menge und beschnuppern kurz mich und meinen Zauberwagen. Ein schwarzer Langhaardackel versucht sein Revier abzustecken und hebt sein krummes Beinchen an einem ebensolchen des Biedermeiersofas. Die Stimmung im Raum ist optimal und ich bin schon in voller Fahrt. Das ist mein Publikum und meine Atmosphäre, die ich liebe. Es braucht in dieser etwas chaotischen und verrückten Atmosphäre kein vorsichtiges Herantasten an das Publikum, kein Warm-werden-Müssen in den ersten Minuten; hier darf ich mich spontan zauberisch austoben und auch ein bisschen verrückt und chaotisch sein wie unter guten Freunden. Am Schluss forme ich Ballontiere, die in der ausgelassenen Stimmung der Kinder oftmals platzen - aber ich habe ja genügend dabei. Der 6-jährige Maxl soll noch eine Rakete bekommen. Ich blase einen langen dünnen Luftballon auf, ohne ihn zu verknoten, halte ihn in Richtung Zimmerdecke, um niemand zu verletzen, die Kinder zählen 'Eins - zwei - drei.' Dann werde ich den Ballon loslassen, der geradeaus durch die Luft schnellt. So ist es geplant. Die Erwachsenen haben inzwischen angefangen, sich an dem Tortenbuffet gütlich zu tun. Der Großvater des Geburtstagskindes, ein freundlicher Herr mit schütterem weißen Haar, hat sich gerade ein großes Stück einer duftig-zarten Erdbeersahne auf seinen Teller geladen und ist dabei, die schmale wabbernde Köstlichkeit vorsichtig balancierend zwischen am Boden krabbelnden Kleinkindern an seinen Platz zu bringen, auf seinen Lippen ein seliges Lächeln im Vorgenuss dieser Götterspeise. Er war mir schon während der Vorstellung aufgefallen, weise lächelnd wie ein Philosoph, vielleicht hat er an seine Kindheit gedacht, an Zaubervorstellungen von damals.

"Achtung - Fertig los!", rufe ich - besorgte Eltern schirmen ihre Säuglinge mit Händen ab vor der zu erwartenden Rakete. Ich habe die Rakete zwar auf die Zimmerdecke gerichtet. Sie hat aber einen anderen Weg genommen und schießt ungeplant zielsicher mitten in das rosa luftig-duftige Sahnegebilde des Großvaters und auf der anderen Seite wieder hinaus. Tschsch!!! Wie nach einer Explosion wirbeln unzählige rosa Sahneflöckchen durch die Luft und tanzen in der Nachmittagssonne. Die Kinder kreischen, der Dackel bellt, die beiden Jagdhunde stimmen mit ein, die Erwachsenen lachen. Der vergeistigte Großvater starrt völlig entgeistert auf seinen leeren Teller und murmelt fassungslos: "Alles ist fort." Das stimmt zwar nicht ganz, denn einige der rosa Sahneflöckchen haben sich auf seinen weißen Haarspitzen niedergelassen und leuchten in der Sonne wie winzige Rubine. Das war entschieden der Höhepunkt einer gelungenen Zaubervorstellung.

Wilma Wally


Ausschnitt aus "Münchner S-Bahn-Katastrophen"


 Eine Lokführerin sucht Entspannung


Ich muss zur Ruhe kommen! Was war das heute für ein beschissener Tag! Ob ich dort im Wald Entspannung finde?

 Ich stelle das Auto ab und gehe in den Wald. Dort auf der Lichtung ist ein großer Baum frisch gefällt worden.

Was für ein hübscher Platz! Sollte ich versuchen, zu meditieren?

Ich setze mich im Schneidersitz auf den Baumstumpf, lege meine Handrücken auf die Knie und führe Daumen und Zeigefinger zusammen.

So macht man das doch, oder?

Die Vögel zwitschern, der Wald rauscht leise.

 Ich versuche, den Kopf frei zu bekommen. Doch lange hält die Leere nicht an. Bald kommt wieder alles hoch: Ich hatte als Lokführerin eine elf-Stunden-Schicht, wie so oft, fünf lange Runden auf der S-Bahn, alle zwei, drei Minuten anhalten, aufstehen, rausschauen. Mir dreht sich noch immer alles.

So oft sind heute die Leute wieder zu spät gekommen; nur dreißig Sekunden Aufenthalt, die Tür war schon fast zu, da reißt sie einer wieder auf, das kostet eine wertvolle Minute. Schon habe ich vier Minuten Verspätung und nachher planmäßig nur zehn Minuten Zeit, um aufs Klo gehen zu können, also nur noch sechs Minuten, eigentlich zu knapp, aber es hilft nichts, ich muss.

Mich zwickt es im Bein. Hat sich eine Ameise unter die Hose geschummelt?

 Und dann noch eine Betriebsstörung, die die Schicht auf vier Stunden durcheinander gebracht hatte. Das passiert doch fast jeden Tag!

Mein Herz rast schon wieder.

Und dann auf dem Heimweg: In der S-Bahn fahre ich auf einem freien Führerraum mit, da habe ich erst einmal meine Ruhe. Doch komme ich dabei an meiner Haltestelle selten direkt bei der Unterführung, die ich brauche, raus, andere ausgestiegene Reisende kommen mir meist zuvor. Verdammt! Schon wieder kriechen eine Frau auf Stöckelschuhen und ein alter Mann nebeneinander die schmale Treppe hinunter und ein anderer hat direkt nach Verlassen der S-Bahn eine Zigarette angezündet und qualmt auch in der Unterführung; da bleibt mir schier die Luft weg. Ich versuche also, mich so schnell wie möglich hindurch zu schlängeln.

Verdammt, das Kribbeln am Bein hört nicht auf! Ich haue zu.

Und dann auf der Autobahn, einer zweispurigen: die einen schleichen mit achtzig Kilometer pro Stunde, die anderen rasen mit zweihundert; wie soll ich mich da als Kleinwagenfahrer behaupten, der am Liebsten 120 fährt? Rechts werde ich ausgebremst und auf der linken Spur gejagt. Wie das frustriert!

Langsam wird mein Hosenboden nass. Ich hebe mich leicht ab. Es klebt! Verflixt und zugenäht, meine Diensthose!

Nein, so finde ich keine Ruhe, ich kann auch im Wald einfach nicht abschalten. Fahre ich lieber nachhause.

Zitternd steige ich zuhause aus dem Auto aus und knalle die Tür zu. Ich bin fertig mit der Welt!

Doch sobald ich die Haustür aufsperre, kommt schon meine Katze Bescha auf mich zu gestürmt. Sie umstreicht laut schnurrend und mit aufgerichtetem Schwanz meine Beine. Sofort durchdringt mich eine gewisse Ruhe und meine Mundwinkel heben sich zu einem Lächeln. Ich beuge mich zu ihr hinunter und kraule ihren Kopf, den sie in meine Handfläche drückt.

Ich bringe nur schnell meinen Rucksack an seinen Platz und füttere Bescha.

Bald ist sie mit dem Abendessen fertig und das Entspannungsprogramm kann beginnen.

Ich begleite sie zum Teppich im Wohnzimmer und dort wirft sie sich vor mir auf den Rücken. Ich kraule ihren Bauch und setze mich neben sie. Sie rollt hin und her, zeigt mir mal die Seiten, mal den Rücken, mal den Bauch, schmust abwechselnd mit ihrer eigenen Pfote und mit meiner Hand, krümmt sich, während ich den Nacken kraule und streckt sich, wenn ich sanft über den Hals streiche. Sie schnurrt und tretelt, drückt ihre gespreizten Pfoten gegen meinen Arm, hakt ihre Krallen in meinen Ärmel und leckt über meine Finger.

Der Stress von der Arbeit ist vergessen, mein Kopf wird leer und während ich immer weiter kraule, kommen mir neue Einfälle für private Aktivitäten und frische Energie fließt in mich hinein. Wenn Bescha genug vom Streicheln hat, stehe ich entspannt auf und mache voller Elan mit den eben erdachten Dingen weiter.

 

Das Schnurren einer Katze entspannt mehr als jedes „Ommm“.

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